Interkulturelle Kompetenz: wie zeitgemäß ist der Zungenbrecher heute noch?

Nicht nur, dass der Begriff sperrig ist. Ich habe es schon unzählige Male erlebt, dass Menschen sich gnadenlos verhaspeln, wenn sie ihn aussprechen wollen. 

Nein, in diesem Artikel soll es um eine kritische Betrachtung des Begriffs der interkulturellen Kompetenz gehen und wann es sich lohnt, sich die Zunge dafür zu brechen.

An dieser Stelle macht es Sinn, den Begriff und zwei seiner Nachbarinnen kurz zu erläutern: 

Multikulturalität

Das Modell der Multikulturalität geht davon aus, dass verschiedene Kulturen friedlich nebeneinander leben, ohne dass es zu einer Verschmelzung kommt[1]. Man stelle sich eine hübsche Reihenhaussiedlung vor, in der auf jeder Parzelle Familien unterschiedlicher Kulturen friedlich nebeneinander leben – stets in Kenntnis der eigenen kulturellen Werte und ihrer ganz individuellen Bedeutung und dadurch in Respekt vor den (ggf. völlig unterschiedlichen) Werten der Nachbarsfamilie.  

An dieser Stelle wird klar: Das funktioniert genau so lang, bis die Äste des Kirschbaums zu weit ins Nachbargrundstück hineinwachsen und man sich darüber unterhalten muss.

Interkulturalität 

Wenn die Nachbarn durch den Kirschbaum im Austausch sind, kommt die Interkulturalität ins Spiel: Sie meint die Begegnung zwischen den Kulturen, das Kennenlernen der jeweils anderen Kultur. Wobei zu berücksichtigen bleibt, dass Kulturen selbst keine statischen, sondern dynamische, sich permanent wandelnde Gebilde sind[2]. Voraussetzung hierfür sind Offenheit und Neugier für das Fremde. Es geht weder darum, in der Kultur des anderen aufzugehen (Assimilisation), noch dem anderen die eigene Kultur überzustülpen (Ethnozentrismus). 

Transkulturalität und transkulturelle Kompetenz

Das Konzept dieser, für das Miteinander in zunehmend internationalisierten Gesellschaften unabdingbaren, Kompetenz geht zurück auf den Kulturphilosophen Wolfgang Welsch[3]. Anstelle der alten als „Nationalkulturen“ konzipierten Kulturen existieren nach Welsch diverse Lebensformen und Lebensstile, die über die Grenzen der Nationalstaaten hinausgehen. 

In diesem Verständnis drückt das Konzept der Transkulturalität die zunehmende Auflösung der zuvor angenommenen Kategorien von kulturell Eigenem und kulturell Fremdem aus. Daraus resultiert eine Betrachtung des Individuums, losgelöst von kulturellen Zuschreibungen. Das Konzept der Transkulturalität trägt in der theoretischen Perspektive zu einer Auflösung bzw. „Entschärfung“ von kulturellen Differenzen bei, indem diese als temporäre, durchlässige und heterogene Phänomene betrachtet werden.

Das Modell der Interkulturalität beruht wie das der Multikulturalität auf angenommenen Differenzen zwischen dem kulturell Eigenen und dem kulturell Anderen. Dementsprechend wird kulturelle Verschiedenartigkeit als Begründung für mögliche Konflikte benannt und als Lösungsansatz die Vermittlung von Wissen über kulturelle „Andersartigkeit“ präsentiert.

Das Modell der Interkulturellen Kompetenz beinhaltet also die Idee, dass  es verschiedene  Kulturen gibt, zwischen denen  (inter) man sich zwar kompetent und sicher bewegt, die aber dennoch voneinander abgegrenzt sind. 

Es ist nur dann ein gutes Modell, wenn diese Kulturen weder quantitativ noch qualitativ unterschiedlich bewertet werden, also mehr oder weniger wert, wichtig, maßgeblich für Entscheidungen sind. An dieser Stelle kann man sich also gut die Zunge verbiegen.

In der Realität aber ist das nicht so. Unterschiedliche kulturelle Gruppen verschiedener Nationen, sozialer Klassen, Geschlechter, Religionen, sexueller Begierden oder Altersgruppen werden mit mehr oder weniger Relevanz betrachtet, gewürdigt und diskriminiert.

Will man dem entgegenwirken, brauchen wir eine Alternative, die genau dieser Bewertung entgegenwirkt. Und die zudem der gesellschaftlichen Realität auf unseren Plätzen und Straßen gut entspricht.

Eine von Vielfalt geprägte Gesellschaft hat bestimmte Bedarfe, bestimmte Merkmale, bestimmte Tendenzen. 

Wenn ich mein Ohr anlege an die bunte Welt meiner Töchter  (Doppelstaatlerinnen, mehrsprachig, aufgewachsen in zwei verschiedenen Ländern, Anfang / Mitte zwanzig), da höre ich, was mir auch viele meiner Kolleginnen und Kollegen mit plurikulturellem Nachwuchs bestätigen: die Generation unserer Töchter und Söhne, die auf den Arbeitsmarkt drängen und die der Arbeitsmarkt wiederum sucht (Generation z, geboren ab 1995 oder – je nach Autorin- auch 1999), hat kein großes Problem, andere Kulturen zu verstehen. Sie sind gewohnt, sich auf kulturell bedingte unterschiedliche Verhaltens- und Arbeitsweisen einzustellen. Schließlich kennen sie das von Kindesbeinen an von ihren türkischen Tanten, den deutschen Müttern, den spanischen Großvätern, den kolumbianischen Vätern, den russischen Cousinen. Da wundert man sich nicht, wenn die Kollegin fastet oder der Kollege eilig die Arbeit liegen und stehen lässt und nach Hause muss, weil die Mutter überraschend angereist gekommen ist.  Dennoch geschieht dies eher mit einer Art schlafwandlerischen Sicherheit, die also zumeist nicht bewusst geschieht. Zur Bewusstwerdung braucht es auch für die Z’lerinnen Methoden, wie sie entsprechende  Trainings, die auf den Umgang mit Diversität ausgerichtet sind, vermitteln. Denn auch wer sich gut mit dem iphone auskennt, ist noch keine Fachfrau für Google.

Grundsätzlich mit Vielfalt großgeworden erleben sie aber, dass Lehrkräfte in den Schulen diese Vielfalt sehr oft nicht ausreichend kennen, sie weder lesen noch interpretieren, geschweige denn damit umgehen können. Da fragt der Tutor des Deutsch-Leistungskurses dann schon mal eine Schülerin, die Öncü heißt, was sie denn hier im Leistungskurs mache. Und wenn die Mutter, die auch Öncü heißt, dann zum Gespräch in der Schule aufläuft, dann marschiert besagter Tutor schon mal zielstrebig an der Mutter vorbei, weil der keine weiße Deutsche, sondern eine Frau mit Kopftuch und orientalischem Hintergrund erwartet. (Nun, der Tutor war lernfähig.)

Die Frauen und Männer der Generation Z lernen auch, dass ihre Bewerbungen, wenn ihre Namen nicht Meier, Müller, Schulz, sondern Yilmaz, Ouattara, Mengove lauten, am besten namenlos eingereicht werden und besonders gut bei denjenigen Firmen ankommen, die verstanden haben, in welcher Zeit wir leben. Und die verstanden haben, dass genau diese plurikulturellen jungen Leute sich die Freiheit nehmen, sich ihre Wunscharbeitgeberinnen entsprechend deren Herzblut und Verständnis für die Zeichen der Zeit, für Diversität als gesellschaftliche Realität, rauszusuchen.

Es muss sich also anstrengen, wer die Jungen gewinnen will.

Durch Ereignisse wie der Übergriff auf George Floyd, die Anschläge des NSU und andere, rassistisch motivierte Gewalttaten fordert die Gesellschaft, wie sie sich in ihrer Vielfalt an mittlerweile nahezu allen Plätzen in Deutschland zeigt, ein klares Bekenntnis zu Vielfalt und bewusstes Handeln gegen Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung insgesamt. Immer mehr Menschen sind nicht mehr bereit, Ungerechtigkeiten aufgrund von persönlichen Merkmalen, die in ihrer Verschiedenheit für sie längst selbstverständlich sind, hinzunehmen. Und wählen sich ihre Umgebung, ihre Freundinnen, ihren Partner, ihre Arbeitgeberin entsprechend aus.

Es ist also nicht nur eine gesellschaftliche Notwendigkeit, dass politische Rahmenbedingungen und Herausforderungen aus Migration und Teilhabe in einer sich im Wandel begriffenen vielfältigen Gesellschaft diskutiert und neu modelliert werden.

Es ist auch eine Notwendigkeit von Organisationen, die Strukturen und Voraussetzungen für die Bedarfe einer von Vielfalt geprägten Unternehmenskultur zu schaffen, mit der sich die Generation Y und erst recht die Generation Z identifizieren und zugehörig fühlen kann. 

Nur so kann es gelingen, nachhaltig Mitarbeiterinnen zu gewinnen und zu halten. 

Ich sehe an dieser Stelle davon ab, erneut die Vorteile von diversen Teams aufzuzählen, lade die geneigte Leserin und den geneigten Leser ein, den Beitrag „Diversität: Gibt es auch bei Ihnen die Zeitenwende oder wird da grad noch der Obstkorb gefüllt?“ dazu zu lesen.


Über

Martina Möller

Martina Möller ist Betriebswirtin, Heilpraktikerin für Psychotherapie mit Schwerpunkt auf transkulturellem Coaching (deutsch, englisch, türkisch) und systemische Therapeutin.

Martina Möller iKult